Bei neurodegenerativen Erkrankungen gehen bevorzugt einzelne Gehirnregionen und bestimmte neuronale Zellsorten zugrunde. Beispielsweise befinden sich die bei der Parkinson-Krankheit primär betroffenen Neurone insbesondere in den aminergen Kerngebieten des Hirnstamms, wohingegen bei Alzheimer-Patienten der Schläfenlappen mit Hippocampus und entorhinalem Cortex zumeist betroffen ist.
Mittels einer genauen molekularen Analyse einzelner Nervenzelltypen konnten nun Zalocusky und Kollegen die Variabilität herausarbeiten, die den Unterschieden in der Krankheitsanfälligkeit zugrunde zu liegen scheint. Dabei identifizerten sie ein lange bekanntes Eiweiß, das in degenerierenden Nervenzellen verstärkt exprimiert wird und eine wichtige Rolle beim neuronalen Zelltod spielt. Es handelt sich dabei um das Apolipoprotein E4 (ApoE4).
Es gibt drei Hauptformen von ApoE: ApoE2, ApoE3 und ApoE4. Während die ApoE2-Variante das Risiko für Alzheimer senkt, haben Menschen mit einer oder zwei Kopien der ApoE4-Variante ein 3- bzw. 14-fach höheres Risiko zu erkranken. Es ist daher nicht überraschend, dass ApoE4 den wichtigsten genetischen Risikofaktor der Alzheimer-Krankheit darstellt. Obwohl ApoE4-Träger nur 20-25% der Allgemeinbevölkerung ausmachen, sind sie für 60-75% der Alzheimer-Fälle verantwortlich und erkranken deutlich früher als Menschen, die das ApoE4-Allel nicht aufweisen.
ApoE wird im Gehirn in erster Linie von Gliazellen (Astrozyten) gebildet; im höheren Alter und bei neurologischen Krankheiten aber auch von Nervenzellen. Erhöhte ApoE-Werte, die bei Alzheimer-Patienten in etwa 20% der absterbenden Neurone gefunden werden, führen zu zellulärem Stress und Aktivierung des Immunsystems. Dadurch vermindert sich die Anzahl von synaptischen Kontakten und Neuroplastizität geht zurück. Weiterhin wird die Alzheimer-typische Tau-Pathologie verstärkt.
In der 2021 in Nature Neuroscience publizierten Arbeit sind Mäuse gentechnisch so verändert worden, dass sie eine menschliche ApoE4-Variante exprimieren. Diese ist vermehrt in degenerierenden Nervenzellen nachweisbar. Eine Zunahme der neuronalen ApoE-Expression scheint also ein Prädiktor für den neuronalen Zelltod zu sein. Umgekehrt ist in Tieren, die kein neuronales ApoE herstellen können, der Verlust von Neuronen und Synapsen im Hippocampus vollständig aufgehoben. Dieser wichtige Befund deutet darauf hin, dass ApoE tatsächlich eine kausale Rolle bei der neuronalen Degeneration im Rahmen der Alzheimer-Krankheit spielt.
Neben den intrinsisch neuronalen Mechanismen wird darüber hinaus eine Beteiligung des Immunsystems angenommen, da Zalocusky et al. herausfanden, dass sowohl in Mäusen als auch in menschlichen Neuronen eine Aufregulation des Histokompatibilitätskomplexes Klasse I (MHC-I) in Zellen mit hoher ApoE-Expression festzustellen war. Der MHC-I-Weg dient normalerweise dazu, intrazelluläre Antigene auf der Zelloberfläche darzustellen und damit dem Immunsystem anzuzeigen, dass die Zelle zum Körper gehört und nicht angegriffen werden sollte. Alternativ könnte sie von einem Krankheitserreger (z.B. einem Virus) befallen sein und müsste durch spezifische Immunzellen zerstört werden.
Interessanterweise ist MHC-I nicht nur in Alzheimer-Modellen, sondern auch bei der Parkinson-Krankheit in absterbenden Neuronen erhöht. Die durch ApoE induzierte MHC-I-Überexpression könnte daher als "Friss mich"-Signal interpretiert werden, damit Mikroglia und Killer-T-Zellen aktiviert werden, die dann den neuronalen Zelltod bedingen.
Zusammengenommen deuten die vorliegenden Ergebnisse darauf hin, dass neuronales ApoE die zellulären Stress- und Immunreaktionen sowohl bei Gesunden als auch bei Alzheimer-Kranken oder Patienten mit leichteren kognitiven Einschränkungen reguliert. Die weitere Entschlüsselung der ApoE4-induzierten Mechanismen, die zum neuronalen Zelltod führen, könnte wichtige neue Angriffspunkte für eine Therapie der Alzheimer-Krankheit liefern. Möglicherweise lassen sich mit diesem Wissen Medikamente zur Vorbeugung oder Behandlung der Neurodegeneration entwickeln, die die neuronale Expression von ApoE reduzieren, die ApoE-MHC-I-Achse unterbrechen oder die Induktion der Tau-Pathologie blockieren.
Referenzen:
Wagner J, Neher JJ (2021) Killing ageing neurons, one cell at a time. Nature Neuroscience 24:759
Zalocusky KA, Najm R, Taubes AL, Hao Y, Yoon SY, Koutsodendris N, Nelson MR, Rao A, Bennett DA, Bant J, Amornkul D-eJ, Xu Q, An A, Cisne-Thomson O, Huang Y (2021) Neuronal ApoE upregulates MHC-I expression to drive selective neurodegeneration in Alzheimer’s disease. Nature Neuroscience 24:786
Bildnachweis: iStock/dra-schwartz
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